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Sina Kamala
Kaufmann

Portrait der Schriftstellerin und Aktivistin Sina Kamala Kaufmann
Photo credit Christian Werner

»Die Autorin spricht am liebsten nicht von Klima, sondern von Stimmung.«

Sina Kamala Kaufmann ist Aktivistin und Autorin, sie lebt in Berlin und hat lange in der Gaming-Industrie gearbeitet. 2019 gab sie mit M. Timmermann und A. Botzki die Übersetzung eines "Extinction Rebellion Handbuchs" (S. Fischer) heraus. Ebenfalls 2019 publizierte der Berliner Verlag mikrotext Sina Kaufmanns Erzählband "Helle Materie". Sie selbst bezeichnet die Geschichten als "nahphantastische Erzählungen". "Beunruhigend hellsichtig", fand der Berliner Tagesspiegel, und dieses gewisse Maß Beunruhigung passt sehr gut zu unserem Climate Fiction Festival.

»Klaus erwirkte die Abschaffung der Toilettenspiegel im Parlament und in allen Ministerien. Das so an Putzdienstleistungen gesparte Geld wurde symbolisch für neue Frauenhäuser gespendet, denn es fehlten davon über 18.000 im Land. So viele Frauen, die Gewalt erfuhren, Hilfe suchten und keine bekamen? Er fand, weder die Innenministerin noch der Familienminister sollten ruhig schlafen können. Statt ihres Spiegelbildes bekamen die Abgeordneten und Gleichstellungsbeauftragten also jeweils die aktuelle Zahl der fehlenden Plätze angezeigt. Auf Symbolbilder, die Frauen mit versehrten Körpern zeigte, wurde verzichtet. Es kamen aber bald weitere Kennziffern hinzu, die durchschnittliche Klassengröße an Schulen, die Zahl der Wohnungslosen, die Anzahl der Suchtkranken, die Summe der ausgestorbenen Insekten, die Quadratmeterzahl versiegelter Bodenflächen im Vergleich zu unversiegelten, die Zahl der Analphabeten, das Bruttoinlandsprodukt, das Durchschnittseinkommen. Später gab es Online-Abstimmungen darüber, welche zehn Brennzahlen den Volksvertretern und Beamten ständig und aktuell vor Augen geführt werden sollten. Daten für alle. Nach und nach führte der Bundesnarr eine zunächst illegale Paralleldemokratie ein, genau dort, wo die Spiegel hingen.«

(Aus: Sina Kamala Kaufmann: Helle Materie. Nahphantastische Erzählungen, Mikrotext 2019)

"Für mich ist Helle Materie eher "Social-Science-Fiction", ein Begriff den ich mir womöglich ausgedacht habe. Er spielt damit, dass wir Sozialwissenschaften oder auch der Psychologie Genauigkeiten zuordnen, die den Naturwissenschaften ähneln. Das ist meiner Meinung nach ein grundsätzliches Problem unserer Diskurse, beziehungsweise unserer allgemeinen Glaubenssätze. Die Annahme, dass wir die Gesellschaft und das Individuum berechnen können. Diesem Weltbild wollte ich ganz bestimmt keine weitere Nahrung geben." (Sina Kamala Kaufmann in einem Interview mit Sebastian Lessel in SPEX, am 15. August 2019) Statement für die Autonomie des Denkens: "Ein Begriff, den ich mir womöglich gerade ausgedacht habe". Die Autorin spricht auch am liebsten nicht von Klima, sondern von Stimmung. Spielt man das einmal durch, erscheinen "Stimmungskrise" und "Stimmungskatastrophe", dann aber "Stimmungswandel". Und darin klingt natürlich jenes Moment der politischen Utopie an, das Extinction Rebellion anstrebt - einen grundlegenden Wandel unserer lebensfeindlichen Wirtschaftsweise. Ein Gespräch über Literatur und Widerstand.